Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Politikerinnen und Politiker,
liebe interessierte Leserinnen und Leser,
es ist vollbracht – nach mehreren hunderten Stunden ehrenamtlicher Arbeit in den vergangenen 1,5 Jahren können wir Euch und Ihnen die Auswertung unserer NRW-weiten Umfrage zu den „Kommunalen Rahmenbedingungen der Kindertagespflege in NRW“ präsentieren.
Die aufgezeigten Fakten offenbaren dringenden Handlungsbedarf – angefangen bei rund 20.000.000 Euro zu Unrecht empfangener Landesmittel in 49 der 88 Jugendamtsbezirke im Betreuungsjahr 2020/2021 bis hin zu jährlichen, finanziellen Differenzen im zweistelligen Bereich für Kindertagespflegepersonen trotz gleicher Leistung.
Wir weisen darauf hin, dass alle in der Auswertung verwendeten Angaben auf Auskünfte von Kindertagespflegepersonen aus den zugehörigen Kommunen/Kreisen zurückzuführen sind. Vereinzelte Fehlangaben können trotz mehrfacher intensiver Prüfung durch das Netzwerk KTP NRW nicht endgültig ausgeschlossen werden.
Nachdem uns im täglichen kollegialen Austausch die unterschiedliche Handhabung in den verschiedenen Kreisen und Kommunen bewusst wurde, haben wir uns im August 2020 mit Benennung der Fakten an Herrn Minister Dr. Stamp gewendet.
Nach der Antwort von Herrn Minister Dr. Stamp im September 2020, dass er unsere Einschätzung einer „gravierend unterschiedlichen Auslegung und Umsetzung des KiBiz in den Kommunen nicht teile“, war es uns ein Anliegen, die Umstände in den verschiedenen Kommunen und Kreisen belegbar aufzuzeigen und Vergleichbarkeiten zu schaffen.
In enger Zusammenarbeit mit den im Netzwerk vertretenen Kommunen haben wir eine Umfrage mit 82 Fragestellungen und zugehörigen Unterfragen mit Stand zum 01.08.2021 erstellt, welche von Kindertagespflegepersonen aus 88 Jugendamtsbezirken in NRW im Zeitraum Juni bis Oktober 2021 beantwortet wurden.
Im Anschluss fand die Auswertung der Umfrage durch das UADS Institut für Umfragen, Analysen und DataScience GmbH unter der Federführung von Herrn Prof. Dr. Faulbaum statt, finanziert durch die Berufsvereinigung der Kindertagespflegepersonen e.V. und Leuchtsterne Dortmund e.V., wofür wir an dieser Stelle noch einmal unseren herzlichen Dank zum Ausdruck bringen möchten.
Die Auswertung umfasst 102 Seiten, die Themenbereiche können der Inhaltsangabe entnommen werden.
Zur Verdeutlichung der kommunalen Unterschiede – sowohl für Kindertagespflegepersonen als auch für Eltern – möchten wir einige Ergebnisse kompakt benennen:
Mit Stand vom 01.08.2021 haben 49 der 88 Jugendamtsbezirke (rund 56 Prozent) eine oder mehrere KiBiz-Vorgaben zum Erhalt der Kindertagespflegepauschalen gemäß § 24 nicht erfüllt.
In der Praxis bedeutet dies: 49 Kommunen und Kreise haben Landesmittel (finanziert durch Steuergelder) von rund 20.000.000 Euro im Betreuungsjahr 2020/2021 zu Unrecht in Anspruch genommen (ohne Berücksichtigung von Kindern mit Förderbedarf, für welche Kommunen den knapp 3-fachen Satz erhalten). Bei insgesamt 186 Jugendamtsbezirken in NRW, von welchen nur 88 bei der Umfrageauswertung berücksichtigt wurden, erhöht sich diese Summe mit großer Wahrscheinlichkeit entsprechend.
Herr Minister Dr. Stamp äußerte hierzu in seinem Schreiben von September 2020 Folgendes: „Ich bitte um Verständnis, dass das Land aus Rechts- und Kapazitätsgründen keine Möglichkeit hat, eine Rechtsberatung im Einzelfall vorzunehmen und beispielsweise kommunale Richtlinien und Satzungen in der Kindertagespflege auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen.“
Wer ist für die Einhaltung der zugehörigen Bedingungen zur Auszahlung von Landesmitteln verantwortlich? Eine Frage, die jeden Steuerzahler und jede Steuerzahlerin in NRW interessieren dürfte.
Wie unsere Umfrage zeigt, entscheidet der Wohnort darüber, wie viel Geld Familien in NRW in frühkindliche Bildung investieren müssen. Ausgehend von einer 45-Stunden-Betreuung unter 3 Jahren in der höchsten Beitragsstufe zahlen Eltern beispielsweise pro Monat in Aachen keinen Elternbeitrag, gefolgt von Langenfeld mit 264 Euro, in Iserlohn 280 Euro bis hin zu 880,40 Euro in Haltern am See, 980 Euro in Mülheim an der Ruhr und den Höchstsatz haben wir in Marl verortet, mit 990,50 Euro monatlich.
Auch wenn sich der monatliche Beitrag am Einkommen der Eltern orientiert, dürfte eine monatliche Differenz in der höchsten Einkommensstufe in Höhe von 990,50 Euro schwer argumentierbar sein. Gerechnet auf ein Jahr bezahlte eine Familie in Marl in der entsprechenden Einkommensstufe mit Stand vom 01.08.2021 somit 11.886 Euro, im Vergleich zu 0 Euro in Aachen.
Auch die Bezahlung der Kindertagespflegepersonen gestaltet sich aufgrund fehlender, gesetzlicher Vorgaben massiv unterschiedlich.
Die Höhe des Sachaufwandes pro Stunde und Kind variiert zwischen 1 Euro in Wülfrath und 2,48 Euro im Ennepe-Ruhr-Kreis (siehe Seite 30).
Die durchschnittliche laufende Geldleistung pro Stunde und Kind (berechnet aus dem Durchschnitt vorhandener Bezahlungsstufen) war mit 3,60 Euro in Lüdenscheid am niedrigsten und mit 6,28 Euro in Iserlohn am höchsten (Sachaufwand und Förderleistung, siehe Seite 29).
Hierbei war im Rahmen der Auswertung festzustellen, dass die laufende Geldleistung mit erhöhter Einwohnerzahl und damit einhergehenden erhöhten Lebenshaltungskosten NICHT höher ausfällt, die Festlegung erscheint willkürlich.
Die durchschnittliche laufende Geldleistung variiert in den Jugendamtsbezirken um bis zu 2,68 Euro pro Stunde und Kind. Eine Bespielrechnung, basierend auf 4,33 Wochen mit 5 Tageskindern, die jeweils 40 Wochenstunden betreut werden, ergibt somit eine Differenz von 27.850,56 Euro Umsatz pro Jahr – wohlgemerkt für die gleiche Leistung.
Was für uns die Frage aufwirft, inwiefern sich solch gravierende Unterschiede im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung noch mit §23 Absatz 2a SGB VIII (die Anerkennung der Förderleistung ist leistungsgerecht auszugestalten) vereinbaren lassen.
Den größten Unterschied bezogen auf alle Fragen haben wir bei Bezahlung von Ausfalltagen der Kindertagespflegepersonen festgestellt.
In 66 Prozent der 88 Jugendamtsbezirke werden betreuungsfreie Tage unterteilt (Urlaub, Krankheit), in 34 Prozent findet keine Unterteilung statt.
In 2 Kommunen (Aachen und Bielefeld) wird kein einziger Ausfalltag bezahlt.
Addiert findet sich das Maximum im Kreis Herford mit 67 bezahlten Ausfalltagen, wobei dies aufgrund einer speziellen Krankheitstageregelung (beliebig viele Krankentage pro Jahr, begrenzt auf maximal bis zu 30 Tage am Stück) in anderen Kommunen noch höher ausfällt (siehe Seite 53).
Es konnte mit Ausnahme von Bielefeld keine höhere laufende Geldleistung in Relation zu weniger oder keinen bezahlten Ausfalltagen festgestellt werden.
Um die Unterschiede zu verdeutlichen, folgt hier ein Rechenbeispiel:
Wir gehen von 5 Tageskindern mit 8 Stunden Betreuung an 5 Tagen pro Woche aus, gerechnet auf 4,33 Wochen pro Monat.
Ausgehend von diesen Arbeitszeiten verdiente eine Kindertagespflegeperson mit Stand vom 01.08.21 in Aachen (mittlere Geldleistung 5,02 Euro pro Stunde und Kind) für die gleiche Arbeit grundsätzlich pro Jahr 8.105,76 Euro weniger als im Kreis Herford (mittlere Geldleistung 5,80 Euro pro Stunde und Kind).
Sollte die Kindertagespflegeperson in Aachen nun auf 67 Ausfalltage im Beispieljahr kommen, ergibt sich ein weiteres potenzielles Minus in Höhe von 13.453,60 Euro pro Jahr und somit im Worst-Case-Szenario eine jährliche Umsatz-Differenz in Höhe von 21.559,36 Euro.
Dieser gravierende Unterschied offenbart den dringenden Handlungsbedarf in Bezug auf bezahlte Ausfalltage der Kindertagespflegepersonen, vor allem in Hinblick auf die pandemische Situation. Akute Erkrankungen führen zu Betreuungsausfällen und in Jugendamtsbezirken mit keinen/wenigen bezahlten Ausfalltagen wird dies auf Dauer zu einer Entziehung der finanziellen Existenzgrundlage vieler Kindertagespflegepersonen und somit zu einem Zusammenbruch des Konstrukts der selbstständigen Kindertagespflege führen, da viele gezwungen sein werden, ihre Tätigkeit in diesem Bereich einzustellen. Dies hätte gravierende Folgen für das Platzangebot in der U3-Betreuung und auf die Erfüllung des Rechtsanspruchs der Eltern durch die Kommunen.
Daher besteht hier dringender Handlungsbedarf durch politische Entscheidungsträger.
Im Folgenden möchten wir gerne auf die unterschiedliche Auslegung der verbindlichen KiBiz-Vorgaben eingehen, wenn Landesmittel gemäß Paragraph 24 KiBiz von den Jugendamtsbezirken in Anspruch genommen werden (Seite 83 bis Seite 92 der Auswertung):
In der Praxis erfolgt die Umsetzung wie folgt:
In 25 Prozent der 88 Jugendamtsbezirke wird auf Grundlage dieser Formulierung nur die Förderleistung bezahlt (z. Bsp. in Köln, Düsseldorf, Essen und Langenfeld) und in 42 Prozent erfolgt die Erhöhung unter Berücksichtigung von Sachaufwand und Förderleistung (z. Bsp. in Oberhausen, Duisburg, Wuppertal und Rösrath).
In der Praxis erfolgt die Umsetzung wie folgt:
In 4,4 Prozent wird während der Eingewöhnung ein pauschaler Betrag bezahlt, welcher sich zwischen 55 und 300 Euro bewegt und 65,9 Prozent der Jugendamtsbezirke bezahlen die Eingewöhnung entsprechend der vertraglich vereinbarten Betreuungszeit, wobei sich der Betrag in Abhängigkeit vom Start der Eingewöhnung unter Umständen reduziert und 6 Kommunen den Stundenumfang während der Eingewöhnung nur reduziert bewilligen.
3 Kommunen erstatten die Eingewöhnungszeit nur nach stundengenauer Abrechnung, was bei einer längeren Eingewöhnungsphase oder Erkrankung des Tageskindes während der Eingewöhnungszeit die finanzielle Existenz der Kindertagespflegepersonen gefährdet.
In der Praxis erfolgt die Umsetzung wie folgt:
Nur 58 Prozent der 88 Jugendamtsbezirke bezahlen die laufende Geldleistung auf Grundlage der im Betreuungsvertrag vereinbarten Stunden. In den restlichen Kommunen werden willkürliche Grenzen gezogen, beispielweise bei 35 Wochenstunden, oder mit stundengenauer Berechnung des Bedarfs anhand von Arbeitszeit und Fahrtweg.
In der Praxis erfolgt die Umsetzung wie folgt:
In 58 Prozent der 88 Jugendamtsbezirke wird dies berücksichtigt, in 3,4 Prozent gibt es keine pauschale Bezahlung und somit grundsätzlich Kürzungen bei Abwesenheit der Tageskinder.
Es kommt zu Kürzungen, wenn Tageskinder zeitgleich im Urlaub sind und bei weiteren 34,6 Prozent wird die laufende Geldleistung bei längerer Ausfallzeit des Tageskindes gekürzt.
Die Definition der „längeren Ausfallzeitzeit“ reicht von 5 Tagen am Stück bis hin zu 60 Tagen am Stück und von 20 Tagen pro Jahr bis hin zu 60 Tagen pro Jahr.
Kindertagespflegepersonen müssen daher in vielen Jugendamtsbezirken finanzielle Einbußen aufgrund der teils unplanbaren Fehlzeiten von Tageskindern befürchten.
Sowohl der Gesetzesentwurf der KiBiz-Reform als auch die Formulierung der Landesregierung NRW im 11. Kinder- und Jugendbericht drückt sich bei diesem Aspekt nicht deutlich aus: „Als vorübergehend ist eine Abwesenheit des Kindes in der Regel bis zu einem Umfang von sechs Wochen einzustufen“ – bezogen auf welchen Zeitraum? Am Stück oder pro Betreuungsjahr? Jeder Jugendamtsbezirk zieht hier eigene Schlüsse, was derzeit aufgrund der Infektionswellen bei Kleinkindern fatal ist, da die bezahlten Ausfalltage der Tageskinder auf diese Weise bei Addierung zu beispielsweise 6 Wochen jährlich schnell überschritten sind.
In der Praxis erfolgt die Umsetzung wie folgt:
In 89,8 Prozent der 88 Jugendamtsbezirken erfolgt eine jährliche Erhöhung der laufenden Geldleistung. 51,1 Prozent hiervon erhöhen gemäß Fortschreibungsrate laut §37 KiBiz. Weitere Erhöhungen reichen von 0,10 Prozent jährlich bis hin zu 3 Prozent jährlich.
Nicht nur das KiBiz, auch das SGB VIII wird von den Kommunen in NRW unterschiedlich ausgelegt und umgesetzt:
Der BGW-Beitrag wird in 100 Prozent der 88 Jugendamtsbezirke übernommen, wobei die Höhe der Übernahme hingegen völlig unterschiedlich ausfällt. 42 Prozent erhalten lediglich die Mindestversicherungssumme, in einigen Kommunen wird für eine Höherversicherung anwaltliche Intervention benötigt und in 46,6 Prozent wird eine angemessene Höherversicherung übernommen – wobei die Angemessenheit in vielen Fällen durch die Kommune definiert wird.
Jugendamtsbezirken sind offensichtlich.
Dies waren einige der vielen Themenbereiche, welche wir mit der Umfrage erfasst haben.
Aufgrund des Umfangs konnten nicht alle Fragen ausgewertet werden, wir haben uns vorerst auf die wichtigsten Punkte konzentriert.
Andere Themenbereiche (wie beispielsweise Mietkostenzuschuss, Vergabekriterien der Pflegeerlaubnis, Rahmenbedingungen in Großtagespflege, für Randzeitenbetreuung, für inklusive Betreuung und vieles mehr) werden wir nach und nach aufarbeiten und Thema für Thema veröffentlichen.
Nun gilt es erst einmal, die bereits ausgewerteten Daten zu nutzen, um bessere Rahmenbedingungen für Kindertagespflegepersonen und Eltern in NRW zu schaffen.
Rund ein Drittel aller Kinder unter 3 Jahren werden in NRW in Kindertagespflege betreut, der Bedarf steigt stetig.
Wenn auch in Zukunft die Betreuungsform der Kindertagespflege mit all ihren Vorteilen in Bezug auf die Bedürfnisse der Kinder und Eltern erhalten, ausgebaut und weiter professionalisiert werden soll, besteht dringender Handlungsbedarf.
Liebe Politiker und Politikerinnen,
wie können wir gemeinsam an einem Strang ziehen, um nicht nur Gehör zu finden, sondern wirkliche Veränderungen zu bewirken?
Für unserer Kinder, für unsere Gesellschaft von heute und morgen, für unsere Zukunft.
In diesem Sinne wünschen wir allen eine schöne Arbeitswoche und freuen uns auf regen Austausch.
Die vollständige Umfrageauswertung finden Sie hier als PDF-Dokument:
Umfrageauswertung – kommunale Rahmenbedingungen der Kindertagespflege in NRW
Mit den besten Grüßen
das Netzwerk Kindertagespflege NRW